Interview mit Oliver Rieger zur Evidenz für H → µµ

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Anlässlich der erzielten Evidenz für den Zerfall des Higgs-Bosons in zwei Myonen haben wir uns mit Oliver Rieger unterhalten. Oliver Rieger ist Doktorand an der Universität Hamburg und hat im Rahmen seiner Doktorarbeit direkt zu diesem wichtigen Resultat beigetragen.


Um was genau geht es bei der Suche von H → µµ?

Seit seiner Entdeckung im Jahr 2012 untersuchen die ATLAS- und CMS-Kollaborationen am CERN aktiv die Eigenschaften des Higgs-Bosons. Im Standardmodell (SM) der Teilchenphysik sagt der Brout-Englert-Higgs-Mechanismus voraus, dass das Higgs-Boson mit Materieteilchen proportional zur Masse der Teilchen wechselwirkt, und so allen Materieteilchen ihre Masse verleiht.

Bei der Analyse von Higgs-Boson-Zerfällen in Myonen suchen wir nach einem Myon-Anti-myon Paar mit einer Masse, die der Masse des Higgs-Bosons entspricht. Ein Teil der verschiedenen Prozesse, die in den Proton-Proton-Kollisionen stattfinden, erzeugen ebenfalls ein Paar Myonen. Diese sogenannten Untergrundereignisse können nur durch Unterschiede in deren kinematischen Eigenschaften vom H → µµ Signal unterschieden werden. Um nun zum allerersten Mal eine hinreichend signifikante Aussage treffen zu können über die Existenz einer Higgs-Boson Wechselwirkung mit Myonen, ist das Ziel dieser Analyse, die potentiellen Signalereignisse von den Untergrundereignissen zu isolieren und zu messen.

Die nun veröffentlichten Resultate der CMS-Kollaboration konnten das erste Mal eine Kopplung des Higgs-Bosons an Myonen nachweisen. Die gemessene Kopplung ist innerhalb der statistischen und systematischen Fehler kompatibel mit der SM-Vorhersage.


Warum ist das wichtig?

Sowohl die ATLAS- als auch die CMS-Kollaboration haben bereits beobachtet, dass das Higgs-Boson in Tau-Leptonen zerfällt. Damit konnte eine Higgs-Boson-Kopplung an Teilchen der dritten Generation bereits nachgewiesen werden. Da Myonen viel leichter als Tau-Leptonen sind, wird erwartet, dass das Higgs-Boson etwa 300-mal seltener in Myonen zerfällt als in Tau-Leptonen. Trotz dieser geringen Zerfallswahrscheinlichkeit bietet der Zerfall in Myonen die beste Möglichkeit, die Higgs Wechselwirkung mit Fermionen der zweiten Generation am LHC zu messen. Bislang gab es keinen Nachweis dafür, dass das Higgs-Boson auch die Massen der Fermionen der zweiten Generation erklärt. Verschiedene Theorien jenseits des SMs sagen mehrere Higgs-Bosonen mit unterschiedlichen Eigenschaften voraus. In diesen Modellen könnten auch die zusätzlichen Higgs-Bosonen für die Masse der Myonen verantwortlich sein. Damit leistet die Analyse von H → µµ Ereignissen einen fundamentalen Beitrag zur Erforschung des Ursprungs der Teilchenmassen und der Massenhierarchie der Teilchen im SM.


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Abbildung 1: Die invariante Masse des Myonenpaars ist gezeigt für alle Analysekategorien gewichtet entsprechend ihres Signal-zu-Untergrund-Verhältnisses. Der untere Teil der Darstellung zeigt die Verteilung, nachdem die Untergrundkompnente subtrahiert wurde. Die Datenpunkte zeigen bei 125 GeV, der bereits bekannten Higgsmasse, eine 3𝜎 Standard-Abweichung kompatibel mit der durch das SM erwarteten Verteilung.

Warum ist diese Analyse so schwierig?

Der Zerfall des Higgs-Bosons in Myonen ist sehr selten, durch die kleine Masse der Myonen. Nur etwa eines von 5.000 Higgs-Bosonen zerfällt in ein Paar Myonen. Hinzu kommt, dass es für jedes vorhergesagte Higgs-Boson, das am LHC zu Myonen zerfällt, etwa 1.000 Untergrundereignisse gibt. Das Signal nach dem wir suchen erscheint also nur als eine winzige Verstärkung im Massenspektrum der Myonen (siehe Abbildung 1). Die große Anzahl von Untergrundereignissen und deren Ähnlichkeit mit dem H → µµ Signal macht die Isolierung des Zerfalls von Higgs-Bosonen in Myonen zu einer extremen Herausforderung. Zur Isolierung des H → µµ Signals wurden mehrere neuartige Analyseverfahren einschließlich „Deep Learning“ eingesetzt. Die neuen Analyseverfahren ermöglichen eine Steigerung der Signalsensitivität um 35% im Vergleich zur vorherigen CMS-Analyse basierend auf dem Datensatz aus 2016.


Was war Dein persönlicher Beitrag?

Um eine derart große Steigerung in der Analysesensitivität zu erreichen, wurden die verschiedenen Produktionsmechanismen des Higgs-Bosons am LHC individuell untersucht. Dabei optimierten vier Forscherteams jeweils die Analyse in einem der folgenden Produktionskanäle: Gluon-Gluon-Fusion, Vektor-Boson-Fusion, Produktion in Assoziation mit einem Vektor-Boson, sowie in Assoziation mit einem Top-Quark-Antiquark-Paar. Letzteren Produktionsmechanismus analysierte ich im Rahmen meiner Promotion an der Universität Hamburg. Die Higgs-Boson-Produktion in Assoziation mit einem Top-Quark-Antiquark-Paar hat den kleinsten Produktionswirkungsquerschnitt, sodass nur eine Handvoll von Signalereignissen mit dem LHC Run 2 erwartet wurden. Allerdings bieten die zusätzlichen Zerfallsprodukte der Top-Quarks die Möglichkeit, die Untergrundereignisse stark zu reduzieren, und die potentiellen Signalereignisse gut zu isolieren (siehe Abbildung 2). Die Ergebnisse meiner Arbeit präsentieren zurzeit die präziseste Messung der Higgs-Boson-Kopplung mit Myonen im Higgs-Boson Produktionskanal mit Top-Quarks.


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Abbildung 2: Beobachtetes Ereignis mit 2 Myonen und 6 Jets mit großem Transversal-Impuls, charakteristisch für die Higgs-Boson-Produktion in Assoziation mit einem Top-Quark-Antiquark-Paar. Diese Ereignisse deuten auf eine Interferenz von Higgs-Boson-Zerfällen in Myonen mit anderen Prozessen hin.

Wie geht es jetzt weiter, und was sind Deine Pläne?

Die H → µµ Analyse ist limitiert durch statistische Unsicherheiten, die durch die Anzahl der Signal- und Untergrundereignisse bestimmt werden. Um die Higgs-Boson-Kopplung präziser zu vermessen, benötigen wir also größere Datensätze, welche während der nächsten Jahre im LHC Run 3 und mit dem HL-LHC aufgezeichnet werden.

Ich bin sehr dankbar, Teil dieses aufregenden Projekts gewesen zu sein, welches meine Faszination für die Teilchenphysik weiter gestärkt hat. In der Zeit meiner Promotion habe ich sehr viel über die verschiedensten Analysemethoden gelernt. Dieses Wissen möchte ich nun gerne weiter vertiefen, insbesondere im Hinblick auf die neuesten Fortschritte im Bereich des „Deep Learnings“. Nach dem Abschluss meiner Promotion würde ich mir also wünschen, eine Stelle zu finden, die meine persönliche Weiterentwicklung unterstützt und es mir ermöglicht, in diesem Rahmen an weiteren CMS-Analysen mitzuwirken.

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